Was wir tun, prägt uns. Und so sehen Polizeibeamte überall potenzielle Verbrecher, Ärzte potenzielle Patienten und Vertriebler potenzieller Kunden. Fällt eine Flasche Apfelsaft zu Boden und zerbricht, denkt der Physiker an die Schwerkraft, der Sportler an die Kohlenhydrate und der Hausmeister ans Putzen. Wir haben fast alle einen unterschiedlichen Blick auf die Dinge.
Umkehrschluss: Ein- und dieselbe Sache hat für verschiedene Menschen verschiedene Bedeutungen. Geschieht etwas, bedeutet es für verschiedene Menschen Verschiedenes. Nehmen wir die Website des Deutschen Patent- und Markenamtes (DPMA): Wer eine Marke recherchieren will, sucht dort verzweifelt nach einer Recherchemöglichkeit. Denn die Beamten ignorieren die Anwendersicht und gehen nur von ihren Vorschriften aus. Und gemäß diesen unterhalten sie ein „Register“. Die Datenbank mit den Markeneinträgen bedeutet also für die Macher, das „Register“ bereitzustellen. Für die Anwender bedeutet diese Datenbank die Möglichkeit zur „Recherche“. Traurig nur, dass das DPMA nur aus der eigenen Perspektive denkt.
Sehr wenige Menschen denken aus der Sicht anderer heraus. Insofern ist es völlig klar, dass ein Ingenieur seine liebe Mühe hat, eine E-Mail an eine Behörde so zu schreiben, dass deren Pressesprecher alles versteht. Der Ingenieur muss raus aus seiner Haut. Er kann die Spezifikationen eines Bauwerks zwar noch auflisten, aber eben nicht als Top-Nachricht. Nach oben gehört die Bedeutung: „Aus Ingenieursicht ist das Risiko eines Einsturzes in den kommenden drei Monaten zu hoch.“ Und erst dann bringt er die Hintergründe.
Die Bedeutung nach vorne zu stellen, heißt nicht, dass der Pressesprecher doof wäre. Niemand (na ja, fast niemand) ist doof. Die Menschen haben nur ihren spezifischen Blick auf die Dinge. Wir sind spezialisiert ausgebildet, der Ingenieur als Ingenieur, der Jurist als Jurist, der Pressesprecher als Kommunikator. Der Pressesprecher ist von der Ausbildung her möglicherweise kein Ingenieur. Er ist die Schnittstelle zur Öffentlichkeit, die zahlreiche Technikdetails nicht versteht. Er muss übersetzen. Das ist eine andere Kompetenz als die eines Ingenieurs. Aber es ist eben eine.
Das Verrückte dabei ist: Obwohl wir wissen, dass die Kompetenz des anderen erforderlich ist, halten wir unsere Sichtweise jeweils für selbstverständlich. Und wie das eben so ist, wenn wir uns auf etwas konzentrieren: Das, worauf wir uns nicht konzentrieren, blenden wir aus. Zum Beispiel das Denken der anderen. Alternative Sichtweisen.
Ein Designer beispielsweise denkt dann über seinen Tellerrand hinaus, wenn er Wasserhähne entwirft, die nicht nur hübsch sind, sondern unter die auch Hände passen. Designern fehlt es oft am Sinn für Anwendbarkeit. Juristen brauchen Geschäftssinn, zu dem es gehört, auch mal fünfe gerade sein zu lassen. Machertypen brauchen juristisches Gespür und betriebswirtschaftliches Know-how, um zu erkennen, was geht und was nicht geht. Die Spezialisierung in ihrer hundertprozentigen Ausprägung ist zumindest in meinen Augen ein Denkfehler. Wir brauchen die Interdisziplinarität. Unbedingt.
Einer in sich zerrissenen Belegschaft ist allerdings nicht mit Kuschelseminaren geholfen. Es geht – wie so oft – nicht ums klassische Teambuilding, sondern zunächst einmal nur ums kognitive Verständnis des anderen und seines Denkens. Zu Schulzeiten waren die Kinder aus dem anderen Dorf doof, weil sie aus dem anderen Dorf waren. Heute, unter berufstätigen Erwachsenen, sind die in der anderen Abteilung doof, weil sie eben in der anderen Abteilung arbeiten und aus unserer Sicht irgendwie seltsam ticken. Dabei tun sie das gar nicht – wir müssen sie nur zu verstehen versuchen. Und als Menschen sollten wir das können.
Ich frage mich beispielsweise seit Jahren: Wann kapieren unsere Katzen endlich, dass wir keine Mäuse essen? Immer wieder legen sie uns welche hin. Nur: Die Katzen können kognitiv nicht meine Sicht einnehmen. Ich aber ihre. Und damit ist das auch meine Aufgabe. Das heißt für Ihr Unternehmen: Wer in der Lage ist, sein Gehirn einzuschalten, hat auch die Aufgabe, es zu tun. Wer mitdenken kann, der denke mit! Niemand sollte sich dumm stellen und stur so tun, als sei die Perspektive des anderen uneinnehmbar.
Spezialisierung ist gut und schön, aber wir sollten den Blick fürs große Ganze beibehalten. Wenn ein Unternehmen ein Produkt ausliefert und das Geld dafür auf dem Konto landet, ist es das Verdienst aller. Nicht nur des Verkaufs. Mitgewirkt hat die Produktentwicklung – jeder einzelne Planer, Designer und Techniker hat seinen Teil zum Erfolg beigetragen. Mitgewirkt hat die Personalabteilung, weil sie dafür sorgt, dass die richtigen Leute an der richtigen Stelle sitzen. Mitgewirkt hat das Marketing, weil es die Attraktivität des Unternehmens hebt. Die Pressestelle, weil sie für Bekanntheit sorgt. Die Juristen, weil sie für wasserdichte Verträge sorgen. Sehen Sie das, in Ihrem Unternehmen? Dass der Unternehmenserfolg ein Erfolg aller ist?
In Seminaren höre ich oft von Konflikten zwischen Abteilungen – und oft spielt eine Menge Sturheit eine Rolle. Die Leute könnten sich ja auf das Denken der anderen einlassen. Intellektuell sind sie dazu in der Lage. Aber oft wollen sie es nicht. Weil die anderen es ja auch nicht tun. Oder, noch schlimmer: Weil jeder seine Arbeit macht nach dem Prinzip: „Du machst deine Arbeit, und ich mache meine Arbeit.“ Weil wir also gar nicht interdisziplinär und vernetzt arbeiten wollen.
In E-Mails, die wir im Seminar besprechen, lese ich dann oft: „Ich habe bis 17 Uhr mehrfach versucht, Sie telefonisch zu erreichen, es ist mir leider nicht gelungen.“ Vorwürfe dieser Art sind üblich. Zwischen den Zeilen steht mangelndes Verständnis. Da steht der Anspruch, die andere Abteilung habe natürlich für uns da zu sein. Dass der Kollege oder die Kollegin ihren Job macht, sehen wir nicht, weil wir eben keinen Blick dafür haben. Es gibt viele Gründe, warum jemand mal nicht erreichbar ist. Beim fraglichen Beispiel war die Lösung: „Sehr geehrter Herr Kollegenname, könnten Sie mich morgen bitte sofort anrufen, wenn Sie ins Büro kommen? Meine Abteilung hat auf die Frage der Behörde vermutlich eine Antwort. Rufen Sie doch bitte kurz durch, es geht schnell.“ Das ist ein Wording, das dem anderen die Hand reicht. Die richtigen Worte können das zerrüttete Verhältnis verfeindeter Abteilungen kitten.
Betrachten wir die Welt also einmal nicht nur durch unsere Brille. Sehen wir von unserem Blick einmal ab! Stellen wir als Jurist unsere Regeln und Abläufe nach hinten und sprechen mit der Kundenbetreuung, um das Problem des säumigen Kunden herauszufinden. Akzeptieren wir als Marketing, dass wir nichts versprechen sollten, was die Produktentwicklung nicht halten kann – und dazu reden wir eben miteinander. Ordnen wir alles, was wir tun, einem höheren Zweck unter. Dem großen Ganzen.