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Eine Grenzüberschreitung und eine Reise ins „Ich“

Markus Boehlke hat uns einen persönlichen Einblick in seine Erfahrungen während seiner Auszeit gegeben:

Im letzten Jahr habe ich beschlossen, mir eine berufliche Auszeit zu gönnen. Ich arbeite in der Medienbranche. Eine sehr schnelllebige und hektische Branche mit ständigem Zeit- und Quotendruck. Als ich von meinem Arbeitgeber die Möglichkeit bekommen habe, drei Monate frei zu nehmen, habe ich nicht mehr lange gezögert und mich sofort an die Arbeit gemacht, meine Auszeit zu planen.

Doch drei Monate nur irgendwo am Strand zu liegen, wandern zu gehen oder herumzureisen ist nicht mein Ding. Ich bin auf die Idee gekommen, mich im Ausland in einem sozialen Projekt zu engagieren. Ich habe mich für Indien und dann auch noch für Nepal entschieden. Doch es war nicht leicht, dort Projekte zu finden, in denen ich ehrenamtlich arbeiten konnte. Ich bin zufällig auf die Auszeitagentur gestoßen und habe diese kontaktiert. Iris Gadischke und Daniela Scholl haben sich dann sofort an die Arbeit gemacht und mir mehrere Projekte herausgesucht. Aufgrund ihrer guten Kontakte bin ich in Delhi in einem Schulförderungsprojekt untergekommen, das sich um Kinder aus den Slums kümmert. Und zudem in Nepal in einem Kinderheim mit 22 Waisenkindern. Das war für mich eine völlig neue Aufgabe, denn ich habe zuvor noch nie mit Kindern gearbeitet. Geschweige denn, dass ich zuvor drei Monate allein im Ausland war.

Der Start in Delhi war wirklich hart. Und ich muss gestehen, dass es für mich vorerst eher ein „Grenzgang“ als eine „Auszeit“ war. Indien ist anders, das war mir klar. Aber Delhi ist das Krasseste, was ich je gesehen habe. Delhi ist unfassbar groß, laut, dreckig, arm und voller Widersprüche. Plakate von Bollywoodschauspielern, die Werbung für Rolex oder Tag Heuer machen, prangen auf der Straße. Darunter sitzen und liegen die Obdachlosen. Erwachsene, Kinder, Babys. Reihenweise. Man wird auf der Straße unfassbar oft angebettelt. Wenn ich alleine in der Stadt unterwegs war, standen binnen von Sekunden Obdachlose neben mir und bettelten. Sie fassten mich an und waren teilweise ziemlich penetrant. Das war heftig. Und es war ein Mittelding aus Mitleid und Abscheu, was ich in solchen Momenten empfunden habe. Meine Wohnsituation in Delhi war bescheiden. Die Wohnung ist in einem Arbeiterviertel, in einer engen Gasse, nahe dem Projekt. Es gab keine (oder kaum) Weiße dort. An meine Wohnsituation habe ich mich aber schnell gewöhnt. Auch an die Duschsituation. Anstatt einer Dusche hatte ich nur einen Eimer, in den ich Wasser füllen musste. Dazu gab es dann eine kleine Plastikkanne und damit machte ich mich dann nass und „brauste“ mich später ab. Doch das Gute an der Sache war, dass ich mich (trotz geistiger Widerstände) an alles gewöhnt habe. Ich bin in vielen Dingen wirklich abgehärtet, bin an meine Grenzen gestoßen und habe diese erfolgreich überschritten. Und auch die Armut hat mich irgendwann nicht mehr so fertig gemacht. Auch damit lernt man nämlich umzugehen, ohne dabei die Augen zu verschließen. Die Arbeit in der Schule machte unfassbaren Spaß. Auch, wenn es nicht einfach war, den ganzen Tag auf einer Strohmatte auf dem Boden zu sitzen. Die Kinder waren unfassbar pfiffig und schlau. Ich habe Englisch, Mathe und Kunst unterrichtet. Fünfte Klasse, vierte Klasse und erste Klasse. Einige Schüler haben mir sogar gezeigt, wo sie leben und haben mir ihre Eltern vorgestellt. Es war erschreckend, aber auch rührselig. Der Slum, der am Randgebiet von dem Stadtteil Govindpuri liegt, ist unfassbar. Es ist klein, eng, dreckig. Überall roch es nach Fäkalien, eine Hütte neben der anderen. Und auch dort haben die Familien nur ein Zimmer mit bis zu zehn Personen. Teilweise nur ein Bett, in dem die Eltern oder Großeltern schlafen und das tagsüber als Sofa dient. Die Menschen in den Slums waren unfassbar freundlich zu mir. Alle boten mir etwas zu trinken an, schickten ihre Kinder los, um mir Erfrischungen zu kaufen, kochten mir Tee, lächelten mich an. Auch, wenn wir uns nicht verständigen konnten, da sie teilweise kein Englisch sprechen, unterhielt man sich auf irgendeine Art und Weise. Und zwar nur durch Blicke, Lächeln, Gesten. Das war ein irrer Moment für mich. All mein Ekel war fort, die Liebe und Herzlichkeit dieser Menschen berührte mich zutiefst. Und die Kinder waren so stolz, dass ich bei ihnen Zuhause war. Unfassbar.

Nach zwei Monaten bin ich dann noch für vier Wochen nach Nepal geflogen. Auch dort habe ich die gleichen Erfahrungen gemacht. Die Arbeit in dem Kinderheim war sehr berührend und zugleich ein weiterer „Wake-up-Call“ für mich. Als ich erfahren habe, aus welchen Gründen die Kinder in dem Kinderheim waren, habe ich mich geschämt. Ich habe mich dafür geschämt, dass ich zuhause in meinen Wohlstandsproblemen verhaftet bin, mich von schwach sinnigen Dingen stressen lasse oder sogar in manch Situationen aufstöhne und genervt bin in denen dieses gar nicht nötig ist.

Ich kann für mich nur sagen, dass die Auszeit mich regelrecht geerdet hat. Ich habe nun die „wirklichen“ Probleme kennengelernt und lasse mich nicht mehr so schnell stressen und aus der Ruhe bringen. Ich fühle mich geerdeter und kann viele Dinge mehr genießen. Und ich weiß es jetzt auch wieder zu schätzen, wie es ist, wenn man immer eine Dusche oder das nötige Kleingeld hat, um sich eine Tüte Milch oder auch ärztliche Behandlungen leisten zu können. Ich habe in den drei Monaten viel dazugelernt. Auch sehr viel über mich. Wo meine Grenzen sind, wie weit man diese Grenzen erstaunlicherweise überschreiten kann, was im Leben wichtig ist und natürlich, dass man auch mit wenig zufrieden sei kann. Und sollte. Ich bin nun seit zwei Monaten wieder zurück in Deutschland und arbeite auch schon wieder. Und ich merke, dass die drei Monate gut nachhalten. Ich bin im Job entspannter, als je zuvor, was auch allen Menschen in meinem Umfeld auffällt. Viele können gar nicht fassen, dass ich immer noch so entspannt aussehe und es auch bin. Ich bin mir aber sicher, dass es weiterhin so bleibt. Denn die Erlebnisse meiner dreimonatigen Auszeit bleiben unvergessen und haben mich sehr zum Vorteil verändert.

 

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